Es klingelt Sturm. Als ich die Tür öffne, steht Anne heulend vor mir. „Um Gottes Willen! Was ist denn passiert?“, frage ich sie, aber sie ist offensichtlich momentan nicht in der Lage, auch nur einen vernünftigen Satz herauszubringen. Also bugsiere ich sie in die Wohnung und auf mein Sofa, drücke ihr eine Packung Papiertaschentücher in die Hand, hole ihr ein Glas Wasser, nehme sie in den Arm und warte einfach ab.
Zahlreiche Taschentücher später hat sie sich soweit beruhigt, dass sie mir zumindest unter Tränen stichwortartig ein Bild der Lage geben kann: „… Zettel gefunden … Klaus … Geliebte …“, ein erneuter Heulkrampf unterbricht sie. Aber zumindest habe ich nun grob verstanden, was passiert ist. Offensichtlich hat ihr Mann eine Geliebte (Wie hat er denn das hingekriegt, er kriegt doch sonst seinen Hintern nicht hoch?), und sie hat das erfahren, weil sie irgendeinen Zettel gefunden hat. Vielleicht eine Liebesbotschaft? Der Rest der Botschaft kommt dann plötzlich erstaunlich klar vom anderen Ende des Sofas: „Ich bringe ihn um, diesen Arsch!“
Und auch wenn das wahrscheinlich keine Lösung ist, kann ich die Idee dahinter gut verstehen. Anne ist mit Klaus seit über 25 Jahren verheiratet. Sie haben sich noch während des Studiums kennen gelernt. Als er dann nach dem Studium schnell Karriere als Arzt in einem Krankenhaus gemacht hat, hat sie ihm immer den Rücken frei gehalten. Sie haben zwei wunderbare Kinder, die inzwischen allerdings aus dem Haus sind, weil sie studieren. Von außen betrachtet läuft alles prima. Die beiden wohnen in einem schönen Haus, er verdient sehr gut, sie arbeitet, seit die Kinder auf der Welt sind, in Teilzeit, und alles scheint wunderbar zu funktionieren. Allerdings nur von außen betrachtet, wie jetzt deutlich wurde. Die Neuigkeiten, die Anne heute mitgebracht hat, sprechen eine andere Sprache.
Was ist schief gelaufen? Es ist klar, dass man nie wirklich in eine Beziehung hinein sieht. Man kriegt nur einen Bruchteil dessen mit, was dort passiert und welche positiven oder häufig auch negativen Dynamiken es gibt. Selbst wenn eine Freundin oft „aus dem Nähkästchen“ plaudert, bleibt doch das meiste verborgen. Aber fünf weitere Taschentücher später habe ich so viel zumindest verstanden: Für Anne war bisher alles in bester Ordnung. Dann hat sie beim Wäschewaschen in seiner feinen Anzugshose eine Liebesnachricht gefunden. (Wie erniedrigend ist es eigentlich, so etwas zu erfahren, wenn man gerade die dreckige Wäsche des Delinquenten sortiert!)
Auch wenn die Neuigkeit einigermaßen überraschend ist, passt der Seitensprung für mich eigentlich sehr gut zu Klaus. Besonders rücksichtsvoll war er noch nie. Ich war eigentlich schon immer der Meinung, dass er ein arroganter aufgeblasener Narzisst ist, der es immer wieder schafft, Anne so zu manipulieren, dass sie sich komplett nach ihm richtet und ihre Bedürfnisse hinten anstellt. Zwei Tassen Tee und einen Schnaps später fängt Anne dann auch schon wieder an, ihren Möchte-gern-Romeo zu verteidigen: „Weißt du, er hat gesagt, dass es ihm echt leid tut. Aber dass er gerade total in der Krise steckt und nach dem Sinn des Lebens sucht. Und dass wir halt einfach etwas eingerostet sind und er auf der Suche nach Liebe und Zuneigung war.“
Das ist der eine Tropfen, der bei mir das Fass zum Überlaufen bringt. „Sag mal, hörst du dich eigentlich selbst reden?“, fahre ich meine Freundin an. Der Tränenstrom ist abrupt unterbrochen und Anne schaut mich mit großen Augen an. „Klaus betrügt dich und nimmt mal wieder keine Rücksicht auf dich, und du verteidigst ihn auch noch? Wo gibt’s denn so was? Ich finde, es wird allerhöchste Zeit, dass du anfängst, endlich mal auf deine eigenen Bedürfnisse zu hören!“ Anne bleiben die Tränen im Hals stecken und sie schaut mich mit großen Augen fragend an.
Ich glaube, sie braucht eine weitere Erklärung. Schließlich habe ich ihr bis heute nicht gesagt, was ich von ihrem Mann halte. Das wäre bis zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich auch nicht so gut angekommen. „Hör mal, Liebes, ganz ehrlich, ich kann deinen Mann nicht leiden. Er ist ein aufgeblasenes arrogantes Sackgesicht, hat dich einfach nicht verdient und behandelt dich wie ein Stück Dreck!“ Nein, das kann man vielleicht denken, aber nicht wirklich sagen.
Vorsichtig versuche ich mich an das Thema heranzutasten: „Erinnerst du dich damals, als du so krank warst? Und es dir so schlecht ging, weil dein Vater gerade gestorben war?“ Mein Gegenüber runzelt die Stirn, zeigt mir jedoch mit einem Nicken, dass sie sich natürlich an diese schreckliche Zeit in ihrem Leben erinnert. Wie könnte sie das auch vergessen. „Und erinnerst du dich auch noch, dass dein Göttergatte trotzdem das Jungs-Wochenende nicht abgesagt hat? Dass er weg gefahren ist und dich in deinem ganzen Elend einfach alleine gelassen hat?“
“Es war halt alles schon bezahlt…“, fängt Anne zaghaft an. Meiner Gestik kann sie dann trotz ihres Kummers aber zweifellos entnehmen, dass dies der falsche Ansatz ist und verstummt. „Siehst du, du verteidigst ihn schon wieder. Dabei gibt es da wirklich rein gar nichts zu entschuldigen. In einer echten Partnerschaft ist man in der Not füreinander da. Und man krittelt auch nicht permanent am anderen rum. Schließlich geht es darum, den anderen genau so zu lieben, wie er ist.“ Annes Augen werden immer größer.
„Wie meinst du das mit dem Rumkritteln?“ Oh je, jetzt habe ich aber die Büchse der Pandora weit geöffnet. Aber da sie nun mal offen ist, gibt es auch kein Zurück mehr. Vorsichtig versuche ich meiner Freundin zu erklären, was ich in den letzten Jahren beobachtet habe. „Weißt du, mir ist halt öfter aufgefallen, dass er dich vor allen anderen sehr häufig kritisiert. ‚Anne kann halt einfach nicht kochen.‘ ‚Anne ist halt etwas schusselig.‘ ‚Anne hat mal wieder dies oder jenes vergessen…‘ Er macht dich mit diesen kleinen Sticheleien einfach ständig nieder, und du lässt es dir gefallen. Und selbst, wenn er dich betrügt, verteidigst du ihn noch.“
Jetzt ist es gesagt. Etwas besorgt schaue ich meine Freundin an und beobachte, wie ihr Gesicht immer nachdenklicher wird. Ich sage erst einmal nichts mehr und warte ab. Plötzlich wischt sich Anne die Tränen aus den Augen. „Ich glaube, du hast Recht“, sagt sie dann noch etwas unsicher. Dann schüttelt sie energisch den Kopf. „Wie konnte das nur passieren?“ Entsetzt schaut sie mich an, und schon wieder laufen die Tränen. Dieses Mal scheinen es aber brennende Tränen der Wut zu sein.
Eine Stunde später rauscht sie davon, um – wie sie selbst sagt – den Arsch auf die Straße zu setzen. Ein wenig mache ich mir schon Sorgen. Im Augenblick weniger um die Gemütsverfassung meiner Freundin, sondern eher darum, dass sie dem Sackgesicht etwas antun könnte. Aber am Abend ruft sie an, und ich kann aufatmen: Sie hat es tatsächlich geschafft, seine Koffer vor die Tür zu stellen (was wohl ein ziemliches Spektakel für die Nachbarn war), hat ihn aber am Leben gelassen.
Anne ist kein Einzelfall. Bei einigen meiner um-die-50-jährigen Freundinnen und Bekannten kriselt es in der Beziehung. Manche besuchen eine Paartherapie, andere streiten einfach zu zweit und ohne fremde Hilfe. Gerade in der Mitte unseres Lebens fällt es uns Um-die-50-Jährigen schwer, in einer Beziehung weiter zu leben, in der wir nicht glücklich sind. Manche wissen schon lange, dass sie ihre Beziehung eigentlich beenden müssten, anderen wird erst durch die typische Sinnkrise, in der wir Um-die-50-Jährigen häufig stecken, bewusst, dass in ihrer Partnerschaft etwas nicht stimmt. Wieder andere werden wie Anne plötzlich mit der Nase darauf gestoßen, dass in den letzten Jahren so manches schief gelaufen ist.
Das Resultat ist aber immer das gleiche: Sie machen sich über ihre Beziehung Gedanken und stellen sich die Frage, ob sie diese noch retten können, oder ob es schlicht und ergreifend nun endlich an der Zeit ist, diese zu beenden. Was so einfach klingt, ist jedoch gar nicht so leicht. Die meisten meiner Freundinnen sind bereits seit Jahren oder vielmehr Jahrzehnten mit ihrem jeweiligen Partner zusammen. In so langer Zeit gewöhnt man sich einfach an den anderen Menschen, egal ob man in dieser Beziehung nun glücklich ist oder nicht. Man teilt unzählige Erfahrungen und Erinnerungen. Und auch wenn viele davon nun vielleicht in einem anderen Licht erscheinen, gibt es eben auch zahlreiche schöne Erinnerungen: Der erste gemeinsame Urlaub, die erste Wohnung, das Haus, das man zusammen gebaut hat, und last but not least bei vielen auch die gemeinsamen Kinder.
Das schweißt zusammen, ob man nun will oder nicht. Wir Menschen tun uns im Allgemeinen mit Veränderungen schwer. Den meisten von uns fällt es nicht leicht, alte Gewohnheiten abzulegen. Wenn diese Gewohnheiten – egal ob lieb gewonnen oder nicht – jahrelang eingeübt und zelebriert wurden, ist es einfach ein Kraftakt, sich von diesen zu verabschieden. Aber viele Um-die-50-Jährigen spüren, dass das Leben viel zu kurz ist, um es in einer unglücklichen Beziehung zu verbringen. Und anders als noch die Generation unserer Mütter, sind wir heute meistens finanziell unabhängig und lassen uns nicht von gesellschaftlichen Normen dazu zwingen, in einer liebelosen Partnerschaft zu leben.
Und so haben wir heute die Möglichkeit, frei zu entscheiden, ob wir mit unserem Partner zusammen leben wollen oder nicht. Wir können uns auch noch mit 50 oder gar mit 60 für ein ganz neues Leben alleine – oder mit einem anderen Partner – entscheiden. Das heißt natürlich noch lange nicht, dass es leicht ist, sich von einem langjährigen Partner, der vielleicht auch noch der Vater unserer Kinder ist, zu trennen. Aber die Möglichkeit besteht. Und wenn wir uns das bewusst machen, kann dies unsere Haltung in unserer Ehe beziehungsweise Partnerschaft positiv beeinflussen.
Wenn wir uns bewusst machen, dass wir die Möglichkeit haben, jederzeit zu gehen und ein neues Leben anzufangen, macht uns das frei. Und vielleicht sehen wir dann so manches, was sich in unsere Beziehung eingeschlichen haben, viel bewusster. Das gibt uns die Möglichkeiten, Dinge zu ändern. Entweder, indem wir uns selbst ändern, oder indem wir dem Partner gegenüber klare Kante zeigen. Es gibt uns die Möglichkeit, zu äußern, wo unsere Grenzen sind, was wir auf keinen Fall akzeptieren möchten und wie wir gerne in unserer Partnerschaft behandelt werden möchten. Das kann natürlich auch dazu führen, dass die Beziehung letztendlich in die Brüche geht. Denn wir können zwar unsere Grenzen klar ziehen, aber wir können nicht erwarten, dass unser Partner diese auch akzeptiert.
Eine Trennung ist nie leicht. Aber eine Trennung mit 50 läuft anders als eine mit 30. Wenn wir Um-die-50-Jährigen uns trennen, dann geschieht das, weil wir uns unseres Wertes bewusst sind und weil wir ganz genau wissen, dass unsere Zeit viel zu kostbar ist, um unglücklich zu sein. Und das Tolle daran: Wir Um-die-50-Jährigen sind nicht mehr abhängig von anderen. Uns ist egal, was andere denken. Unsere Kinder sind schon selbstständig oder zumindest aus dem Gröbsten heraus, und wir verdienen unser eigenes Geld und sind somit wirtschaftlich unabhängig. Wir können also frei entscheiden, ob wir in einer Beziehung leben wollen oder nicht. Und wir können frei entscheiden, ob wir an unserer Beziehung arbeiten wollen oder eben nicht. Und das fühlt sich einfach großartig an.
Anne hat ihren Rosenkrieg übrigens beigelegt. Der A… durfte wieder bei ihr einziehen. Ich war zuerst ziemlich enttäuscht über ihre Entscheidung. Ich konnte mich aber inzwischen davon überzeugen, dass sich einiges verändert hat. Dass sie ihn wieder in ihr Leben gelassen hat, war nicht gleichbedeutend damit, dass nun alles wieder beim Alten ist. Im Gegenteil. Anne ist richtig aufgeblüht. Sie unternimmt viel mehr mit ihren Freundinnen, sie kleidet sich ganz anders und sie lacht viel mehr. Und wenn ihr Mann eine blöde Bemerkung macht, zeigt sie ihm klare Kante. Neulich hat sie ihm vor versammelter Mannschaft gesagt, dass er sich seine blöden Bemerkungen sparen kann (wortwörtlich!). Und das Beste daran ist: Er hat sich entschuldigt. Die Ehekrise hat sich am Ende des Tages für beide gelohnt. Sie hat dadurch gelernt, ihr eigenes Leben zu führen und sich zu wehren, und er hat dadurch viel Respekt vor seiner Frau bekommen und trägt sie nun – zumindest zeitweise – regelrecht auf Händen.
Neulich saß ich mit Anne in einem Café. Irgendwie kamen wir auf jenen Abend zu sprechen, als sie heulend vor meiner Tür stand. „Wie hast du es nur geschafft, dass dir dein Mann jetzt fast aus der Hand frisst.“ Sie muss lachen und dann schaut sie mich nachdenklich an. „Ich glaube, mir ist bewusst geworden, dass meine Zeit viel zu wertvoll ist, um mich schlecht behandeln zu lassen. Und das war wie eine Befreiung. Dadurch konnte ich mich endlich wehren.“ Sie nimmt einen Schluck Kaffee und fährt dann, selbst ganz erstaunt ob dieser Erkenntnis, fort: „Und dadurch hat er tatsächlich Respekt vor mir bekommen, und ihm ist bewusst geworden, dass es sich lohnt, um mich zu kämpfen.“ Sie beugt sich etwas vor und grinst: „Und er weiß, dass es keine zweite Chance mehr gibt, wenn er mich noch einmal betrügt. Glaub mir, er wird sich benehmen!“