„Lass uns Therapie spielen“, flötete meine Liebste voller Eifer ins Telefon. „Bitte, bitte! Jörgi! – Bitte!!!“ Sie war ganz aufgeregt, „lass uns am Wochenende Therapie spielen!“ Ich sah sie förmlich mit dem Telefon in der Hand auf der Stelle springen in kindlichem Überzeugungswillen.
Welcher Teufel ritt sie jetzt wohl wieder? Ein neues Bett-Spiel?
„Ich mach ja alles mit, Stella“, sagte ich wenig überzeugend, „aber wie meinst du das?“
„Das Spiel!“, lachte sie, „du kennst doch das Spiel! Therapie! Oder eigentlich englisch, Therapy!“
Und sie zitierte offensichtlich einen Werbetext: „Therapy ist ein beliebtes Gesellschaftsspiel, das dazu beitragen kann, dass sich Menschen besser kennenlernen.
Mir dämmerte, dass es sich da eher um das Brett-Spiel handelte, das vor Jahren rasch ganz groß in Mode und dann ganz schnell in Verruf geraten war. Ende der Achtziger muss das gewesen sein, und es gab bald Geschichten über zwischenmenschlich zerstörerische Folgen des Spielgeschehens. Sie habe einfach, sprudelte Stella am Telefon weiter, second hand bei Oxfam das Spiel gefunden, für fünf Euro!, einfach ein Schnäppchen, und sie musste es einfach mitnehmen und wir müssen es einfach spielen! Das, meinte sie, das war einfach ein Wink! Von woher auch immer. Und zu welchem Ziel auch immer, fragte ich mich.
Sie hatte es noch nie gespielt, ich hatte es noch nie gespielt. Sie war extrem neugierig, und ich wollte ihr mit meiner Skepsis die selten gute Laune einfach nicht verderben. Schließlich versprach das Spielebarometer „Kommunikation, Menschenkenntnis, Glück und Unterhaltung“.
Gut. Spielen wir am Wochenende Therapie.
Das hätten wir nicht tun sollen.
Es begann mit der Anzahl der Spieler. Drei bis sechs. „Probieren wir’s zu zweit!“, schlug Stella vor. Schien mir mühsam. „Oder jeder von uns nimmt eine zweite Couch.“ „Okeeeh – !“, stimmte Stella zögerlich zu. Jeder Mitspieler bekommt als Spielfigur eine kleine Therapie-Couch, in schöner Pastellfarbe, pink oder lindgrün oder bleu, und dann würfelt er sich über Wissensfelder, die Karten mit Fragen zu sechs Lebensabschnitten vorhalten – von der Wiege bis zur Bahre –, und alle paar Felder landet er in einer Praxis und muss sich „therapieren“ lassen. Von einem Mitspieler. Bei Zweien sind die Möglichkeiten begrenzt. Dann kann der „Therapeut“ Punkte in Form von kleinen Stiften ernten, und mit Sechsen dieser Mini-Trophäen darf er ins Ziel. Zwischenzeitlich kann ihn aber auch eine Psychose heimsuchen, die ihn sofort zur Schnecke macht – also ins Schneckenhaus treibt, aus dem er sich wiederum nur per erfolgreicher Therapie erlösen kann. Ein teuflischer Kreis.
Die Wissensfragen sind noch erträglich, manchmal gar amüsant, auch wenn mir die eine oder andere recht angestaubt schien. Nun ja, das Menschen-, insbesondere das Frauen-Bild hat doch ein paar Korrekturen erfahren im letzten Vierteljahrhundert. Trotzdem boten diese geballten Ansammlungen nutzlosen Wissens noch manchen Reiz-Punkt. Der Abschnitt über Pubertierende barg manche Klippe – haben die hormonellen Umstellungen in der Pubertät doch manche Parallele zu den Wechseljahren? Und dann das Alter: „Wieviel Prozent der Männer über 60 denken noch täglich an Sex?“, musste ich Stella fragen, und sie ahnte es und war dennoch sichtlich genervt, dass die Antwort tatsächlich „70 %“ lautete. „O Gott!“, stöhnte sie nur, „ich ahnte es. Schöne Aussichten!“
Problematisch wurden die Therapie-Sitzungen. Beispiel: Wer aus der Runde neigt zur Dramatik? Da konnte meine Drama-Queen noch mitlachen. „Für wie selbstsicher hältst du dich?“, fragte die Karte, oder „Für wie intelligent halten Sie sich?“, und Patient wie Therapeut schrieben eine Zahl zwischen Eins und Zehn auf. Gab es Übereinstimmung, gewann der Therapeut einen Stift und der Patient konnte sich freuen, ging aber leer aus. (Gut, er durfte die Praxis verlassen.) Noch blöder dann die Frage: „Für wie dumm halten Sie sich?“, wieder auf der Skala von Zehn bis Eins.
Wir neigten dazu, uns meist bescheiden bei Sieben einzustufen, den anderen bei Acht, das scheint nicht wohlwollend übertrieben und nicht abwertend wenig, also überdurchschnittlich aber vertretbar. Schnell wurde klar: Der Mechanismus ist immer gleich. Der „Patient“ möchte sich nicht zu positiv einschätzen, damit der „Therapeut“ ihn nicht für größenwahnsinnig hält, und der Therapeut wiederum möchte sein Opfer nicht beleidigen und geht deshalb in der Bewertung lieber etwas höher.
Und mir kamen Kommentare in den Sinn, von damals, als das Spiel auf den Markt kam. Sensationell, entlarvend, schockierend, hieß es da. Und dann folgten die ersten Berichte über Liebespaare, die sich in den Haaren lagen, über den Mann, der mit dem Taxi nach Hause fahren musste, über zerbrochene Freundschaften und zerrüttete Ehen.
Klar, Psychologie für Lieschen Müller oder Otto Meier, die in den Karten Niederschlag gefunden hat, Zitate aus populären Alltagsratgebern, aus ‚Psychologie heute‘ oder ‚Psychology Today‘. Was erwarteten wir? Ein Spiel eben, und dazu muss man offen sein und auch ein bisschen Humor aufbringen. Was uns nicht wirklich gelang, weil vielleicht aus Rücksicht auf die Empfindlichkeit in den Wechseljahren noch zu viele Dinge unausgesprochen zwischen uns lagen, die nun ein Spiel brutal thematisierte.
Vielleicht sollten wir doch lieber die Probleme direkt ansprechen und nicht indirekt über ein Spiel kommunizieren, dachten wir beide, ein Oldtimer noch dazu, der Küchen-Psychologie von gestern parat hält, Second Hand-Psychologie eben. Keine noch so raffiniert getextete „Therapy“ ersetzt das direkte Gespräch. Zumindest nicht in dieser Phase des Wechsels, in der immer noch manche Goldwaage auf ungeahntem Terrain lauert.
Und wir beschlossen, das Spiel in den Schrank zu legen, bis wir beide die Reife und die Weisheit des Alters erreicht hätten.
Vielleicht bring ich es auch einfach wieder zurück zu Oxfam.
Oder fühlen Sie sich bereit, Therapie zu spielen?
Herzlich,
Ihr Jörg
Übrigens, falls es Sie interessiert – es gibt längst eine Neuauflage der Therapy. Für unter hundert Euro …