Mädelswochenende. Nach einer Bilderbuch-Wanderung bei Bilderbuch-Wetter sitzen wir in einem gemütlichen Hotel-Restaurant irgendwo in Südtirol. Der Prosecco perlt in unseren Gläsern einladend vor sich hin, ein vielversprechendes Drei-Gänge-Menü wartet auf uns, und die untergehende Sonne taucht die Felsen der Dolomiten in ein kitschiges Hellrot. Eine bessere Kulisse kann man sich für ein Mädelswochenende nicht vorstellen. Und dennoch will nicht so recht Stimmung aufkommen. Es ist ein Wochenende der leisen Töne.
Eigentlich war geplant, dass wir dieses Wochenende zu fünft verbringen. Jedes Jahr im Herbst fahren wir für ein paar Tage zum Wandern in die Berge. Bis jetzt waren immer alle dabei gewesen. Dieses Mal nicht. Zwei von uns fehlen. Maria konnte nicht mitkommen, da ihr Vater an Demenz leidet und nicht mehr alleine zurecht kommt. Nachdem er vor kurzem den Herd angemacht hat und anschließend zum Einkaufen gegangen war, sucht Maria nun für ihn eine neue Unterkunft. Nein, nicht weil die Wohnung abgebrannt ist, aber um genau dieses auch in Zukunft zu vermeiden.
Und Lena musste in allerletzter Minute absagen, weil ihre Mutter im Sterben liegt. Sie hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Natürlich wussten wir, dass sie schwer krank war. Und uns war auch klar, dass eine 75-jährige krebskranke Frau nicht ewig lebt. Aber dennoch beschäftigt es uns sehr und nimmt uns ziemlich mit. Wir hatten uns auf dieses Wochenende und die gemeinsame Zeit sehr gefreut. Aber nun fehlen uns nicht nur die Freundinnen. Das Schicksal ihrer Eltern hat ein Thema in den Raum gestellt, das nun einfach da steht und nicht mehr weg gehen will: Wir Um-die-50-Jährigen sind in einem Alter, in dem Tod und Vergänglichkeit nun häufiger vorbeischauen werden. Und wir sind in einem Alter, in dem die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Eltern sterben oder krank werden, mit jedem Jahr zunimmt.
Die Eltern meiner beiden Reisegefährtinnen leben noch. Nun gut, Steffi hat schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater. Aber soweit bekannt, ist er noch quietschlebendig und lebt mit seiner inzwischen dritten Frau irgendwo im Schwarzwald. Ich selbst habe meine Eltern bereits vor ein paar Jahren verloren. Die Nachrichten von unseren Freundinnen hat bei mir Erinnerungen geweckt an Tod, Abschied und Trauer. Und an eine sehr schwierige Zeit, die hinter mir liegt. Ich betrachte etwas melancholisch das Alpenglühen und hänge meinen Gedanken und Erinnerungen nach.
Plötzlich unterbricht Nicki das Schweigen: „Sei froh, dass du es schon hinter dir hast.“ What? Der Satz ist offensichtlich an mich gerichtet. Ich schaue sie fragend an, während Steffi etwas peinlich berührt wegschaut und dann schnell einen großen Schluck aus ihrem Prosecco-Glas nimmt. „Na ja,“ Nicki fuchtelt wild gestikulierend durch die Luft, als ob sie mit ihren Händen nach Worten suchen will. „Ich weiß nicht, wie ich das so richtig ausdrücken soll. Aber ich hab eine Scheißangst, dass meine Eltern krank werden und ich sie dann pflegen muss.“ Nicki hatte schon immer ein – sagen wir mal – schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern.
Ich fühle ich mich gekränkt. Schließlich war der Tod meiner Eltern kein Zahnarztbesuch oder ein Besuch bei der Schwiegermutter, den man halt einfach so hinter sich bringen muss. Im Gegenteil. Der Tod meines Vaters kurz vor der Geburt meines Sohnes war für mich ein sehr einschneidendes Erlebnis, das mir den Boden unter den Füßen weg gezogen hat. Und meine Mutter nach seinem Tod bis zu ihrem eigenen Tod zu begleiten und mit zu erleben, wie sie sich selbst aufgegeben hat, hat mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Es war die schwierigste Zeit, die ich je erlebt habe.
„Wenn’s weiter nichts ist“, pampe ich Nicki an. „Niemand muss seine Eltern pflegen. Es ist ja schließlich deine Entscheidung, wie du mit deinen Eltern umgehen willst. Sei froh, dass du sie noch hast.“ Das sitzt, denn Nicki versucht seit Jahren, sich von ihrer dominanten Mutter abzugrenzen – mit mäßigem Erfolg. „Boah, wie gemein. Danke, dass du mich daran erinnerst, dass ich es nicht schaffe, mein eigenes Leben zu führen.“ Die Stimmung droht bedenklich zu kippen.
An dieser Stelle greift Steffi in die Diskussion ein. „Jetzt macht Euch doch nicht gegenseitig fertig. Man kann doch ein Schicksal nicht mit dem anderen vergleichen.“ Und an mich gewandt: „Ich glaube, Nicki wollte dich nicht angreifen. Wir haben aber bei dir erlebt, wie schwer es ist, wenn die eigenen Eltern krank werden und sterben. Und ich selbst habe auch eine Riesenangst davor, was mal mit meiner Mutter wird. Aber wir haben bei dir auch gesehen, wie du dich da durchgekämpft hast und wie du dich dadurch verändert hast.“
Ich habe mich verändet? Steffi sieht meinen fragenden Blick und erklärt: „Das war für dich damals echt eine Scheißzeit. Aber es war für dich ja auch ein Anlass, an dir zu arbeiten und dein Leben zu verändern. Und heute geht es dir doch besser denn je, oder?“ Da hat sie natürlich nicht ganz unrecht. Der Tod der eigenen Eltern ist sicherlich für jeden ein wirklich einschneidendes Erlebnis. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg und wirft viele existenzielle Fragen auf. Und das unabhängig davon, ob man ein gutes oder schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern hat. Die Bindung zu Mutter und Vater ist nun einmal so eng, dass deren Tod einfach nicht spurlos an einem vorüber geht.
Mich hat der Tod meiner Mutter, sechs Jahre nach dem Tod meines Vaters, wirklich an den Tiefpunkt meines Lebens gebracht. In meiner Trauer stellte ich vieles in Frage. Auf viele dieser Fragen habe ich eine Antwort gefunden. Aber eine Frage blieb einfach übrig und ist bei mir geblieben: die große Frage nach dem Sinn des Lebens. Wenn ein nahestehender Mensch stirbt und der Tod einem so nahe kommt, lässt sich die Vergänglichkeit des Lebens nicht mehr leugnen. Und wir Um-die-50-Jährigen können uns sehr einfach ausrechnen, dass wir – rein statistisch gesehen – schon mehr als die Hälfte unseres Lebens hinter uns haben.
Ich glaube, wir haben zwei Möglichkeiten, mit dieser Erkenntnis umzugehen. Wenn wir gut im Verdrängen sind, können wir solche Gedanken einfach wegschieben und weiter machen wie bisher (= schlechte Lösung), oder wir können den Tod zum Anlass nehmen, wirklich etwas in unserem Leben zu ändern (= gute Lösung!).
Ich habe mich damals für letzteres entschlossen. Es war sicherlich nicht der einfachere Weg, aber wie mein Vater immer sagte: „Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt.“ Ich habe tief in mir gespürt, dass es in meinem Leben schon lange Dinge gab, die mir nicht gut taten, und dass es sich lohnen würde, daran etwas zu ändern. Egal, wie anstrengend dies war und wie viel Schweiß es mich kostete. Mit der Zeit haben sich dann zwei Dinge heraus kristallisiert, die für mich einfach sinnlos geworden waren: einen Beruf auszuüben, der wenig sinnstiftend ist, und Beziehungen zu pflegen, die mir nicht gut tun. Und dann war irgendwann klar, dass ich beide Punkte ändern musste.
Und das habe ich dann in den zwei Jahren nach dem Tod meiner Mutter auch getan. Vor allem habe ich gelernt loszulassen und nicht aus reiner Gewohnheit an altem festzuhalten, obwohl es mir nicht gut tut. Das klingt so einfach und logisch, aber in Wirklichkeit fällt uns das unglaublich schwer. Loslassen ist so ziemlich das Schwierigste, das es gibt. Von dem Punkt, an dem wir realisieren, was uns nicht gut tut, bis zu dem Punkt, wo wir wirklich etwas verändern, ist es oft ein langer und mühevoller Weg.
Bei mir hat dieser Weg sage und schreibe zwei Jahre gedauert. Und er ist sicherlich noch nicht zu Ende. Aber zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter habe ich meinen alten Beruf an den Nagel gehängt und eine Weiterbildung zur Ernährungsberaterin begonnen. Das war der erste wichtige Schritt in ein neues, ein besseres Leben. Und ich habe mich von ein paar Beziehungen verabschiedet, die mir einfach nicht gut taten. Krisen zeigen einem schließlich immer sehr deutlich, welche Menschen wirklich da sind, wenn man sie braucht und welche eben nicht.
Und ich muss zugeben, dass Steffi recht hat: So schwer der Tod meiner Eltern und die Zeit danach war: Heute geht es mir so gut wie noch nie zuvor in meinem Leben. Jede Krise, die wir erleben, ist auch immer eine Chance – wenn wir sie ergreifen. Und jede Krise hat das Potenzial, dass wir gestärkt aus ihr hervorgehen und dass wir danach der Person, die wir wirklich sein wollen, einen Schritt näher sind.
Ich schaue Nicki versöhnlich an: „So habe ich es gar nicht gemeint. Aber wenn die Eltern krank werden oder sterben, kann man das nicht einfach so hinter sich bringen. Das wirft einen erst einmal total aus der Bahn und zieht einem den Boden unter den Füßen weg. Und die Trauer um meine Eltern wird mich mein Leben lang begleiten.“ Ich mache eine Pause, wische mir die Tränen aus den Augen und atme tief durch. „Aber du hast Recht. Sie wird mit der Zeit auch kleiner. Und das Gute daran ist, dass wir dadurch auch stärker werden und dass wir daran wachsen. Und anschließend sind wir vielleicht ein bisschen mehr so wie wir schon immer sein wollten.“
Wir schauen uns mit feuchten Augen an und wissen alle drei nicht so genau, was wir sagen sollen. Da hebt Nicki ihr Glas, streckt es uns entschlossen entgegen und ruft uns ein etwas zu lautes: „Auf das Leben!“ zu. Diese völlig unpassende Geste bringt mich zum Lachen. „Auf das Leben“, antworte ich und stoße mit meinen Freundinnen an. „Und auf die Freundschaft“, füge ich dann noch hinzu. Schließlich kann man jede Krise und jeden Schicksalsschlag bewältigen, wenn man gute Freunde an seiner Seite hat. „Auf die Freundschaft!“ kommt es donnernd von der anderen Tischseite zurück. Die Berge sind inzwischen fast komplett in Dunkelheit gehüllt. Nur an den obersten Zinnen blitzt noch ein wenig Alpenglühen hervor.
Was für ein toller Artikel! Vielen Dank dafür! Ein so schwieriges Thema so offen und ehrlich anzugehen finde ich klasse. Vor allem zeigt es einem auch deutlich, wie sich Fragen zum Sinn des Lebens mit der Leichtigkeit langjähriger Freundschaften vermischt und sich Freude und Trauer abwechseln! Das heißt es zu leben! Mit unterschiedlichen Fragestellungen zu unterschiedlichen Zeiten! Danke für die Anregungen heute darüber nachzudenken!
Liebe Alex,
herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar. Ich freue mich besonders darüber, da es in der Tat ein sehr emotionales Thema für mich war. Schön, wenn mein Artikel Anregungen für dich enthalten hat. Aber wie du schreibst, mit guten Freundinnen kann man alles schaffen.
Liebe Grüße
Eva