Zu viel Drama ist Gift für die Liebe – zu wenig aber auch, sagt der renommierte Hamburger Paartherapeut Christian Hemschemeier. Warum eine Beziehungs- oder Ehekrise mit über 40 so viele Menschen betrifft, wie sich die Balance zwischen Nähe und Auseinandersetzung wieder herstellen lässt und warum scheinbar harmonische Paare oft tiefergehende Probleme haben als Drama-Couples, erklärt er Wechselweib Heike im Interview.
Wechselweiber: Seit rund 15 Jahre beraten Sie als Therapeut und Coach Paare mit Problemen, und haben dabei zwei typische Muster ausgemacht, die der Liebe schaden. „Überaktivierte“ und „unteraktivierte Paare“ – was meinen Sie damit?
Christian Hemschemeier: Unteraktivierte Paare könnte man etwas flapsig so beschreiben: Sie sind gute Freunde, aber schlechte Liebhaber. Oft empfinden sich solche Männer und Frauen als gutes Team im Alltag, bei der Kindererziehung, gelten nach außen als Vorzeigepaar – nur, dass unter der ganzen Harmonie irgendwann massiv die Erotik, die sexuelle Spannung leidet. Genau umgekehrt ist es bei den Überaktivierten: Sie sind mehr auf Konflikt als auf Kompromiss programmiert, werden leicht verletzend, haben einen Hang zur Dramatik – dafür höre ich aber von solchen Paaren selten Klagen, dass es im Bett langweilig geworden wäre.
Aber wenn ständig die Fetzen fliegen, wenn die freundschaftliche Basis nicht da ist, dann ist die Beratung sicher auch schwieriger …
Nein, eher ist das Gegenteil der Fall. Oft ist die Bindung bei den Drama-Paaren sogar höher, sie lieben sich, aber leiden an- und miteinander und möchten gemeinsam etwas ändern. Da kann man ansetzen. Während die äußerlich harmonischen sich oft auf eine resignierte Weise miteinander arrangiert haben und große Schwierigkeiten haben, mehr Konflikte und damit mehr Lebendigkeit zuzulassen. Paradoxerweise ist bei diesen Paaren oft sogar ein Seitensprung hilfreich, um das eingeschlafene Feuer wieder zu entfachen, die Energie wieder zu aktivieren. Für andere ist das aber auch der endgültige Todesstoß in einer scheintoten Beziehung.
Woran liegt es, dass Menschen in solchen Mustern landen – wird ein bestimmter Typ Frau oder Mann automatisch zum unter- oder überaktivierten Partner?
Sicherlich bestimmen biographische Erfahrungen unsere Beziehungsmuster, also etwa, ob wir Nähe zulassen können oder sie eher fürchten, wie wichtig uns Autonomie ist und wie wichtig Verschmelzung. Aber grundsätzlich haben die meisten Menschen verschiedene Möglichkeiten in sich und pendeln oft nach einem bestimmten Muster hin und her: Wenn ich eine schmerzhafte, kräftezehrende, leidenschaftliche Liebe hinter mir habe, dann halte ich eher Ausschau nach jemanden, mit dem ich ein harmonisches und freundschaftliches Alltagsleben habe, aber dann sehne ich mich auch wieder nach etwas mehr Pep und Leidenschaft…
Ist das nicht auch eine Frage der Lebensphase? Viele von uns erleben doch in ihren Zwanzigern die dramatischen Spielarten der Liebe, während sie dann eher mit zunehmendem Alter mit ihrem Partner so gefährlich gemütlich werden.
Ja, sicher. Eine Ehekrise mit über 40 ist ganz typisch: Vor allem bei Paaren mit Kindern sinkt oft die Aufmerksamkeit für die eigene Beziehung, man spürt die Unzufriedenheit auch nicht so, weil man so viele gemeinsame Aufgaben hat. Aber in dem Moment, in dem Kinder in die Pubertät kommen, sich abnabeln, ihre eigene Sexualität entdecken, kommt dann oft die Frage: da war doch noch was, was ist eigentlich mit uns und unserer Liebe?
Sind kinderlose Paare über 40 denn weniger anfällig für die Gemütlichkeitsfalle?
Das vielleicht schon, aber dafür werden sie im fünften Lebensjahrzehnt häufig um so mehr von Sinnkrisen geschüttelt. Elternsein hat eine gewisse Selbstverständlichkeit, man kann sich gegenseitig auf die Schulter klopfen und stolz sein, dass man diese Aufgabe gemeinsam gemeistert hat. Wenn das nicht stattgefunden hat, ob freiwillig oder unfreiwillig, entsteht oft ein größeres Vakuum, die Frage: Was sind eigentlich unsere Werte, was gibt uns Erfüllung? Ich erlebe auch kinderlose Paare, die sehr lange die Partyphase des Lebens verlängert haben und dann mit umso größerer Wucht mit der Frage konfrontiert werden: Was ist die Substanz meines Lebens, und die Substanz meiner Partnerschaft?
Aber existieren nicht auch Paare von der harmonischen oder dramatischen Sorte, die damit gar nicht unglücklich sind? Es soll ja Menschen geben, die mit harmonischen Abenden auf der Couch mehr anfangen können als mit ständig wilder Leidenschaft – und umgekehrt solche, die sich ohne eine Prise Drama inklusive Versöhnungssex nicht lebendig fühlen…
Nicht „ständig“ wilde Leidenschaft, eine „Prise“ Drama – genau das sind hier für mich die Schlüsselwörter. Was ich in meiner Praxis sehe, sind ja Paare, die das Gefühl haben, in einer Sackgasse festzustecken, die etwas ändern möchten, was sie aus eigener Kraft nicht schaffen. Die unglücklich sind, aber zugleich auch noch voller Hoffnung, dass sich daran noch etwas ändern lässt. Beide Enden der Skala, die freundschaftliche, eher asexuelle Harmonie und die kraftvolle, manchmal sogar aggressive Leidenschaft, haben ja ihre Berechtigung. Aber eine erfüllte Beziehung hat für mich mit Balance zu tun, mit der Möglichkeit, beides zu leben, auch wenn phasenweise mal das eine, mal das andere dran ist. Wenn diese Balance bei Paaren funktioniert, dann brauchen sie auch keine Beratung. Dass man als Paar mehr der einen oder anderen Seite zuneigt, ist ja auch nicht problematisch – problematisch sind nur die Extreme.
Und wie bekomme ich die Balance wieder hin, wenn ich und mein Partner zum einen der beiden Extreme tendieren?
Den allzu ängstlichen, äußerlich harmonischen Paaren rate ich: mehr Konflikte wagen. Hinschauen, was gerade zwischen den beiden passiert, Ärger und Frust nicht einfach herunterschlucken sondern auf den Tisch packen, vielleicht auch mal den Partner herausfordern durch eigenes Tun, statt immer vorausschauend Rücksicht zu nehmen. Umgekehrt sollten Drama-Paare vor allem ihre Kommunikation verbessern, lernen, wie Konflikte nicht immer gleich persönlich verletzend werden, mehr Einfühlsamkeit üben. Und für beide Typen von Paaren gilt: Sowohl ein Übermaß an Kontrolle und Eifersucht schadet der Liebe als ein Übermaß an zur Schau gestellter Unabhängigkeit. Gute Partner erleben sich als beides: als Teil eines größeren Ganzen genau wie als Individuum.